
„Kunst ist Schmerz, nicht Therapie!“ Gottfried Benn
So muß ein Gedicht sein
für meinen Urgroßvater Georgius Abraham van Hamm (geb. 1879 in Mexico City, gest. 1942 in Antwerpen)
Wie muß ein Gedicht sein?
Schlicht muß es sein!
Nicht banal, nicht zu einfach,
kunstvoll und schlicht.
Wie ein drapiertes Ahornblatt
im Herbst,
als wäre es gerade gefallen.
Wie der Moderduft des Zerfalls
eines frisch ausgehobenen
Grabes.
Wie Termiten im
Holz, so muß es
klingen.
Wie Salz mit Zitrone,
aufgeleckt
nach einem herzhaften
Tequilla,
so muß es schmecken.
Wie das Licht der Sonne,
unerträglich in den Augen
und wundersam warm
auf der Haut,
so muß es spürbar sein.
Ein Gedicht muß alles fassen,
übervoll, wie ein
Waschzuber mit Seifenlauge
und blutbefleckter Weißwäsche,
hinter der Baracke der Wöchnerinnen.
Es muß riechen nach frischem
Chlor und alten Socken
und lustig tanzen muß es,
wie die Körper im
Krematoriumsofen.
So muß ein Gedicht sein,-
schön und nicht selbstgefällig,
wie ein saftiger Apfel,
hart und prall vor dem Sündefall.
Es muß schallen und knallen,
es muß fallen und rumpeln.
Es muß dem Tod von der
Schippe springen und klirren
wie grünes Flaschenglas,
wenn es am Boden zerspringt.

Ernesto Cardenal Martínez: Salmos, 1969